Samstag, 5. April 2008

Ein literarischer Einwurf: Das Leben des Juan

Bei seiner Geburt - nennen wir ihn Juan - schien die Sonne, kein Woelkchen war zu sehen am Himmel ueber dem Dorf in den Huegeln Nordargentiniens. In der warmen Spaetsommer-Luft lag der wuerzige Duft von grilliertem Fleisch. Dieser verbreitete sich von der Wiese entlang des Baches her, wo Familien sich an diesem Samstagnachmittag fuer einen Grillplausch trafen. Wo auch immer man hinsah laechelten in diesen Tagen fast ausschliesslich zufriedene Gesichter in die Welt.

Juans Vater zeigte wenig Interesse an seinem Nachwuchs. Sein Begehren gegenueber Juans Mutter ging offensichtlich nicht ueber den Geschlechtsverkehr hinaus. Die Mutter aber sorgte bestens fuer Juan und seine Geschwister. So wuchs Juan zu einem kraeftigen Juengling heran, der dann aber schon bald auf eigenen Beinen stehen musste: Die Mutter verstarb nach wochenlangem Leiden an einer heimtueckischen Krankheit. Ihr Koerper wurde auf Staatskosten verbrannt.

Zu seinen Geschwistern hatte Juan inzwischen schon laenger keinen Kontakt mehr. Jeder ging seinen Weg. Er hatte aber einige Freunde gefunden, mit denen er sich taeglich traf. Als kraeftiger Jungspund erhielt er eine Beschaeftigung als Wache beim lokalen Kolonialwarenhaendler. Ganz der Vater betrieb er regen Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnerinnen, sofern dies im Rahmen der bescheidenen Dorfgroesse moeglich war.

Dann kam die Rezession. Zuerst traf es die Spielwarenfabrik, den lokalen Arbeitgeber schlechthin. In Zeiten der Rezession ueberlegten es sich betroffene Eltern des schwindenden Mittelstandes des Landes mindestens zweimal, ob sie ihren Kindern neues Spielzeug kaufen oder selbige Sachen kostenguenstig in der Ludothek ausleihen sollten.

Die Fabrik war schon seit Laengerem von finanziellen Sorgen geplagt gewesen. Nun stellte sich auch noch heraus, dass ein Grossteil der Manager-Etage in die eigene Tasche gearbeitet und das Wohl der Firma aufs Straeflichste Vernachlaessigt hatte.
Die Entlassung des CEOs kam zu spaet. Die blonde Interims-Chefin erwies sich punkto Intelligenz als eingeschraenkt, und der homosexuelle Marketingleiter widmete sich in vollkommener Unkenntnis der Betriebsprozesse lieber der Beschenkung seiner temporaeren privaten Partner.

Die ueber den Koepfen der Mitarbeiter heruntergewirtschaftete Fabrik stand nun, Auge in Auge mit der Fratze der Rezession, vor der Schliessung. Man fand zwar einen Kaeufer, der am Know-How der Produktion interessiert war. Die Hoffnung der Fabrikbelegschaft erstickte aber praktisch im Keim. Der Investor, ein Mann in grauem Anzug, dessen Scheitel stramm ueber den Glatzenansatz gekaemmt war, kuendigte bald darauf an, die Produktion nach Asien auszulagern.

Auf praktisch einen Schlag waren rund 80 Prozent der arbeitsfaehigen Dorfbewohner arbeitslos. Viele zogen verzweifelt in die 33 Kilometer entfernt gelegene Stadt mittlerer Groesse in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Einige emigrierten ins bessergestellte Chile, manche versuchten, bei entfernten Verwandten im reichen Europa unterzukommen.

Der Kolonialwarenhaendler des Dorfes verzeichnete alsbald einen drastischen Umsatzeinbruch. Die verbleibenden Dorbewohner kauften fortan fast ausschliesslich im Supermarkt einige Orte weiter ein, wo an den Produktregalen deutlich guenstigere Preise prangten.

Der auf die sechzig Jahre zusteuernde Kolonialwarenhaendler musste sein Lebenswerk schliessen. Als die galoppierende Inflation auch noch seine Ersparnisse aufgefressen hatte, zog er in die Hauptstadt. Dort verschaffte ihm sein Bruder eine Stelle als Hilfsabwart in einem Fussballstadion. Fussball war so etwa das Einzige, auf das die rezessionsgeplagten Argentinier partout nicht verzichten wollten.

Als der Mann zwei Jahre spaeter fuer die Beerdigung eines alten Freundes ins Dorf zurueckkehrte, erkannte er Juan nicht einmal mehr. Das lag einerseits daran, dass die Sehkraft in den letzten Monaten drastisch nachgelassen hatte. Ein gewichtiger Grund war aber auch der desolate Zustand, in dem Juan sich befand. Bis auf die Knochen abgemagert, von Geschwueren uebersaet und hinkend, quaelte dieser sich durch die Tage. "Scher dich zum Teufel", war der uebliche Satz, den man ihm hinterherrief, wenn er die Dorbewohner mit niedergeschlagenem Blick anbettelte. Als Juan sein Glueck im naechsten Dorf versuchte, war es laengst zu spaet. Niemand wollte hier eine jaemmerliche Gestalt wie ihn haben. Man jagte ihn hinaus, worauf er in seine Heimat zurueckkehrte.

Ein Schweizer Touristenpaar, beide um die 25 Jahre alt, hatten sich in der Hauptstadt ein Auto gemietet, um das riesige Land unabhaengig von Busfahrplaenen zu bereisen. An diesem Nachmittag wollten sie laendliche Gegenden erkunden. Es war gegen 15.15 Uhr, als Juans Kopf mit einem lauten, dumpfen Knall an der Stossstange des Offroaders zerplatzte. Er musste nicht leiden und war auf einen Schlag tot. Das erschrockene Paar riss die Tueren auf und sprang aus dem Auto. Waehrend die Frau vor Entsetzen einen Schrei von sich gab, verwandelte sich das Erschrecken des Mannes in Aergernis. "Verdammter Scheisskoeter!", rief er aus, "ueberall streunen sie herum. Warum kastriert niemand diese Viecher? Sieh dir das erbaermliche Tier an. Das ist doch kein Leben!" Sie nickte stumm und wandte den Kopf vom grausigen Anblick ab. "Setz dich wieder ins Auto, ich mach das", meinte er bestimmt. Waehrend sie ins Auto stieg, suchte er sich einen stabilen, dicken Ast und schob Juans Koerper mit angewidertem Blick in den Strassengraben. Anschliessend schuettete er Mineralwasser ueber die Motorhaube und die Stossstange. Mit Toilettenpapier wischte er die Blutspuren weg. Dann fuhren sie weiter.

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